KONSEQUENT

 

Situation: Lehrer (L) sitzt gefesselt in einem Stuhl, Ex-Schüler (S) richtet Pistole auf ihn, neben dem Lehrer steht eine pralle Schultasche auf dem Boden.

 

 

S:

Das geht jetzt nicht gegen Sie persönlich.

 

L:

Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt...

 

S:

Es muss jetzt einfach jemand dafür büßen, dass diese Schule damals mein Leben verpfuscht hat.

 

L:

Ich verstehe das nicht. Haben wir hier denn nicht immer versucht, Schüler fair zu behandeln? Und jetzt werfen Sie uns vor -

 

S:

Fair? Von wegen fair! Betütelt haben Sie uns Schüler, eingelullt, bis uns jeder Realitätssinn verloren gehen musste!

 

L:

Aber Sie sind doch immer menschlich behandelt worden. An unserer Schule jedenfalls -

 

S:

Das war doch nicht mehr menschlich, das war unmenschlich!

 

L:

Bestimmt haben Sie gute Gründe, so aufgebracht zu sein. Ich will Ihnen das auch keinesfalls ankreiden -

 

S:

Sehen Sie? Das ist genau das, was ich meine! Ich ziele mit einer Pistole auf Sie und Sie zeigen Verständnis!

 

L:

Bestimmt hat Ihnen das Leben übel mitgespielt und –

 

S:

Das Leben? Diese Schule, wollten Sie wohl sagen!

 

L:

Wenn wir Ihnen weh getan haben, dann –

 

S:

Weh getan? Eben gerade nicht! Das hätte ich halt mal gebraucht, aber Sie und Ihre Kollegen haben mich doch immer mit Samthandschuhen behandelt!

 

L:

Wir hatten doch immer nur das Beste für die Schüler im Sinn!

 

S:

Dann haben Sie sich aber ganz schön dumm angestellt!

 

L:

Sie sind jetzt nur etwas angespannt und steigern sich da in etwas hinein, was –

 

S:

Was haben Sie mir denn beigebracht? Hä? Typisch deutsche Tugenden vielleicht? Pünktlichkeit z.B.? Ich bin ständig zu spät gekommen, weil ich angeblich dauernd verschlafen habe. Auch nachmittags übrigens, sofern ich überhaupt aufgetaucht bin. Und welche Konsequenzen hatte ich zu tragen? Ein paar strenge Blicke, das war's doch.

 

L:

Sie standen unter Druck, es gab vielleicht familiäre Probleme, Sie konnten –

 

S:

Ich habe in der Kollegstufe Schulaufgaben ohne Attest verpasst und konnte trotzdem nachschreiben.

 

L:

Die Schule wollte Ihnen nicht die Zukunft verbauen...

 

S:

Einmal bin ich nach einer verpatzten Schulaufgabe heimgegangen und habe mir von einem Arzt im Nachhinein einen angeblichen akuten Migräneanfall bestätigen lassen. Und selbst damit bin ich durchgekommen und durfte den Test wiederholen!

 

L:

So sind halt mal die Richtlinien, was sollen wir -

 

S (unterbricht wütend):

Hören Sie mir doch auf mit irgendwelchen Richtlinien! Ich habe die Anmeldefrist für die Berlinfahrt verpasst und die Schule hat mich trotzdem mitfahren lassen. Ich habe eine mündliche Feststellungsprüfung wegen angeblicher Krankheit geschwänzt und bin am gleichen Tag putzmunter mit der K 12 nach Rom gefahren.

Wissen Sie noch, mit welcher Begründung mir das Direktorat das nicht verwehrt hat?

 

(L schaut verwirrt)

 

S:

"Wir können jetzt nicht plötzlich den Holzhammer rausholen und so eine folgenreiche Strafe aussprechen, wenn wir vorher die ganzen Jahre über nicht härter durchgegriffen haben!"

 

L:

Aber das ist doch schön! Das ist eben der an dieser Schule herrschende Geist, das ist -

 

S:

Das ist diese Scheiß-Kuschelpädagogik, die einen nicht aufs Leben vorbereitet!

Was glauben Sie denn, warum ich keinen Job behalten kann? Weil ich z.B. in der Früh nicht aus dem Bett komme, wie halt früher zu Schulzeiten auch. Weil ich immer wieder mal blau mache und die Chefs in den Betrieben das aber nicht einfach so hinnehmen wie die Lehrer. Weil ich alle Termine versemmele und mir eine Abmahnung nach der anderen einhandle. Weil ich ein paar kritische Worte über den Chef verliere und der es nicht nur bei Ermahnungen belässt wie die Schulleitung damals, als ich einige Lehrer im Internet verarscht habe.

 

L:

Sie waren doch noch ein Jugendlicher damals. Sie hatten unter dem G 8 schon genug zu leiden und wir hier –

 

S (unterbricht):

- hätten mir einfach mal einen Tritt in den Hintern geben sollen, statt nach Entschuldigungen für mich zu suchen. Das macht im Beruf nämlich auch keiner mehr, aber so was habe ich eben nie gelernt!

 

L:

Sie haben halt andere Qualitäten. Wenn Sie in der Arbeitswelt gewisse Schwierigkeiten haben, könnten Sie doch erst mal ein Studium aufnehmen und –

 

S:

Ich bin ja nicht zugelassen worden!

 

L:

Aber wieso denn nicht? Ein Abitur bei uns ist doch genauso viel wert wie -

 

S (unterbricht):

- Weil ich den Anmeldeschluss bei der Einschreibung verpasst habe, mein Gott!

Nicht anders wie in der Schule halt: Da habe ich doch auch alle möglichen Termine verpasst und dauernd alles vergessen, bloß hat das keinen gekümmert.

 

L:

Na ja, jeder Schüler hat mal keine Hausaufgabe dabei...

 

S:

Wer redet denn nur von Hausaufgaben? Wenn ich z.B. für die Englischschulaufgabe mein Lexikon nicht dabei hatte, auch wenn der Lehrer uns deswegen angefleht hatte, bekam ich eben eines geliehen, weil die Lehrer für solche Fälle immer ein paar zur Sicherheit vorrätig haben.

 

L:

Ja, aber –

 

S: Sogar fürs Mathe-Abi hatte ich meine Formelsammlung vergessen! Und was ist passiert?

 

L:

Man hat Ihnen wahrscheinlich eine gegeben, weil Sie ohne ja keine Chance gehabt hätten...

 

S:

Erraten! Trotzdem hatte ich dann eigentlich nicht bestanden und man hat mich dann ins Mündliche Abitur geschickt. Ich hatte zwar mal wieder den Antragstermin nicht eingehalten, aber das war natürlich kein Problem. Wundern Sie sich da noch, dass ich jetzt an Terminen scheitere, wenn mir während meiner gesamten Schulzeit keiner auf die Zehen getreten ist und ich immer durchkam?

 

L:

Jedenfalls haben Sie im Mündlichen Ihre Chance genutzt und -

 

S (unterbricht):

Und wie ich die genutzt habe! Ich hatte zwar keinen Schimmer und auch keinen Strich dafür getan, aber man hat mir trotzdem im Mündlichen genau die 8 Punkte gegeben, die ich fürs Durchkommen gebraucht hatte.

 

L:

Hätten wir denn –

 

S:

Ach egal, beim Abi war es eh schon zu spät. Mir war ja jahrelang immer nur eingetrichtert bekommen, Vorschriften und Regeln stören nicht groß, im Zweifelsfall wird schon ein Auge zugedrückt, man kommt immer irgendwie durch! Und jetzt stehe ich im richtigen Leben und habe den Salat!

 

L:

Na ja, wenn es Ihnen tatsächlich ein bisschen an den so genannten Sekundärtugenden mangeln sollte und Sie nicht immer so diszipliniert sind, dann gibt es doch bestimmt eine Frau oder eine Freundin, die sich um Sie kümmert und Ihnen solche Sachen auch mal abnehmen kann?

 

S:

Wachen Sie auf, Mann! Es bleibt ja keine bei mir und ich kann es den Weibern auch nicht wirklich verdenken. Schließlich vergesse ich immer wieder, wann ich was einkaufen soll, ich vergesse die Herdplatten auszuschalten, ich vergesse den Müll rauszutragen, ich vergesse die Frauen vom Bahnhof abzuholen, vergesse ihre Geburtstage, vergesse ihre Namen, -

 

L (unterbricht schmunzelnd):

Na na, jetzt übertreiben Sie aber, Tobi!

 

S:

Tobi? Sie können Sie sogar noch an meinen Spitznamen erinnern? Und das 5 Jahre, nachdem ich in Ihrem LK war?

 

L (korrigiert etwas pedantisch, aber auch etwas stolz auf seine Gedächtnisleistung):

Das war nur der Grundkurs, aber das spielt ja keine Rolle.

 

S:

Das ist doch pervers! Ich habe mich vor x Jahren sporadisch in Ihrem Grundkurs sehen lassen und Sie erinnern sich immer noch an meinen Namen, während ich nicht einmal die wichtigen Dinge des Lebens auf die Reihe kriege?

 

L (erklärt mit leichtem Stolz):

Nun ja, ich habe die Schülernamen immer schnell mit Hilfe der Fotos im Jahresbericht auswendig gelernt – das tun an dieser Schule ja viele Lehrer -, denn es soll doch nicht so anonym zugehen wie –

 

S (unterbricht):

- wie im wahren Leben, meinen Sie? Das ist doch grotesk! Sehen Sie denn immer noch nicht, wie manche Schüler hier so behütet aufwachsen, so geschont werden, dass sie dann im wahren Leben scheitern müssen ? Schauen Sie mich doch an: Bin ich etwa ihre Idealvorstellung eines reifen Menschen?

Aber Sie haben ja keine Ahnung! Mir reicht es jetzt jedenfalls mit dieser ewigen Betulichkeit, dieser "ach, was sind wir doch verständnisvoll"-Haltung, diesem, diesem "Verwöhnaroma", das die Gänge durchzieht. Wenn ich Sie jetzt umbringe, habe ich mich wenigstens einmal zu etwas aufgerafft und bin einmal in meinem Leben konsequent gewesen.

Also tschüß: Ich bin sicher, Sie haben auch dafür noch Verständnis!

 

(zielt auf den Lehrer und drückt mehrmals ab, aber es fällt kein Schuss)

 

Verdammt, ich glaube es nicht! Das ist ja wieder mal typisch! Ich habe doch glatt vergessen, Patronen hineinzutun!

 

(Pause)

 

Könnten Sie mir vielleicht welche leihen?

 

(Pause)

 

L:

Na ja, das ist jetzt vielleicht wirklich nicht der Moment, plötzlich päpstlicher als der Papst zu sein, wenn man vorher doch immer recht nachsichtig war.

Schauen Sie mal in meine Schultasche, ich habe zur Sicherheit eigentlich immer ein paar Patronen dabei...